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Eine Replik auf Johann Hinrich Claussens Artikel „Religion von neurechts“ in zz 3/2021   von Karl-Heinz Weissmann
 
Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen schrieb in der Märzausgabe in zeitzeichenüber das Werk des Historikers Karlheinz Weißmann, dass dieser unter anderem das „Programm eines völkischen Christentums“ wieder neu auflege und sich somit den Vorwurf gefallen lassen müsse, ein „antisemitisches Erbe“ fortzuschreiben. Weißmann weist dies zurück.
 

Wenn wir uns zur Runde der Jugendmitarbeiter trafen, saßen wir meistens im Arbeitszimmer unseres Pastors. Wer Glück hatte, erwischte einen Stuhl und musste sich nicht auf dem Sofa mit den anderen drängen. Hatte man also einen guten Platz gefunden, fiel der Blick zwangsläufig auf jene Wand, die nicht mit Bücherregalen bestellt war, sondern mit Plakaten behängt. Die waren eigentlich für den Schaukasten der Gemeinde gedacht. Aber die, die unserem Pastor besonders gut gefielen, reservierte er sich.

Eines davon ist mir in Erinnerung geblieben, weil es niemals verschwand. Es brachte in knapper Form eine Szene aus Platons „Apologie des Sokrates“. Jemand trat vor, um dem Philosophen etwas zu erzählen. Es ging um einen Freund des Sokrates. Aber bevor er beginnen konnte, fragte Sokrates, ob er seine Geschichte durch die „drei Siebe“ gegeben habe. Das erste Sieb, sagte er, sei das Sieb der Wahrheit. Es klärt, ob das, was man sagen will, den Tatsachen entspricht. Das zweite Sieb ist das Sieb des Guten und dient der Bestimmung, ob die Person oder die Sache, um die es sich handelt, in einem wohlwollenden oder einem übelwollenden Licht erscheint. Das dritte Sieb ist das Sieb der Notwendigkeit. Es gibt Auskunft über die Bedeutung der Information, die jemand weitergeben will.

Der Mann, der zu Sokrates gekommen war, musste zugeben, dass er das, was er über den Freund des Philosophen mitteilen wollte, nur vom Hörensagen wusste, dass es von dem Betreffenden einen schlechten Eindruck hinterließ und dass die ganze Angelegenheit im Grunde nicht der Rede wert sei. Daraufhin entgegnete ihm Sokrates, dass er besser schweigen möge.

Sokrates war kein Christ, sondern Heide. Aber in der Vergangenheit gab es Stimmen, die meinten, dass er wegen seines vorbildlichen Lehrens und Lebens (und Sterbens) einen Platz im Himmel verdiente. Eine Auffassung, die ich teile. Auch deshalb, weil die Geschichte von den drei Sieben einen wichtigen und gut handhabbaren Rat enthält, wie man über andere sprechen sollte. Johann Hinrich Claussen, der Kulturbeauftragte der EKD, sieht das nicht so. Das muss man jedenfalls einem Text entnehmen, der in der März-Ausgabe von zeitzeichen veröffentlicht wurde und sich in erster Linie mit meiner Person befasst und mit dem, was Claussen als meine „Theologie“, genauer: meine „politische Theologie“, ausgibt.

Tiefschwarzes Bild

Fragt man im Sinne des Sokrates, ob das, was er geschrieben hat, wahr, gütig und notwendig ist, wird man drei verneinende Antworten geben müssen. Notwendig war es nicht, da Claussen meinen Einfluss maßlos übertreibt. Bis zur Veröffentlichung seines Textes dürfte den meisten Lesern von zeitzeichen der Name Karlheinz Weißmann unbekannt gewesen sein, geschweige denn, dass eine größere Zahl mit meinen Vorstellungen vertraut wäre. Ein Sachverhalt, der es Claussen erleichtert hat, ein tiefschwarzes Bild meiner Person und meiner Absichten zu malen. Von gutem Willen bei der Darstellung keine Spur. Ganz im Gegenteil. Er geht gegen mich auf eine Weise vor, die er wortreich beklagt, wenn sie ihm selbst widerfährt: „Entwertungen und Anfeindungen“. Bleibt damit nur das erste und wichtigste der Siebe: Stimmt das, was Claussen behauptet?

Natürlich geht es dabei nicht um die Rahmendaten, die im Großen und Ganzen zutreffen. Die Tatsache etwa, dass ich einige Jahrzehnte als Geschichts- und Religionslehrer gearbeitet habe, mich als Konservativen betrachte, deshalb die Einordnung als „Rechter“ akzeptiere und meine politische Sympathie der AfD gehört. Aber das ist unerheblich. Entscheidend ist die Art und Weise, wie diese im Grunde wenig sensationellen Sachverhalte eingeordnet werden. Denn für Claussen geht es nicht darum, dass ich seiner Meinung nach veralteten theologischen Lehren anhänge und die geistliche Überlegenheit dessen bestreite, was er „demokratischen Protestantismus“ nennt, sondern darum, dass ich angeblich die „Sakralisierung“ der eigenen Nation betreibe, ein „völkisches Christentum“ verfechte und ein (verkappter) Antisemit bin, mit der Neigung, die Judenvernichtung der NS-Zeit zu verharmlosen.

Man kann zu Gunsten von Claussen annehmen, dass er nur eine ungenügende und ungenaue Kenntnis meiner Veröffentlichungen hat. Das erklärt aber bloß einen Teil der Irrtümer und Verzeichnungen. Jedenfalls entlastet ihn das nicht von dem Vorwurf, dass er einer vorgefassten Meinung gefolgt ist, und sein Bedürfnis nach Dissonanzreduktion so weit geht, auch ohne Zitate oder andere Belege willkürlich Behauptungen aufzustellen. Letztlich nutzt er, was Hegel die „Herrschaft des Verdachts“ genannt hat: Der Angeklagte ist in jedem Fall schuldig, egal, was er sagt, egal was er tut.

Damit zur Richtigstellung: Ich nehme nicht in Anspruch, Theologe zu sein oder eine Theologie zu haben. In der Regel verzichte ich auf religiöse Begründungen meiner politischen Überzeugungen, dem folgend, was man im Sinne des Augustinus oder Luthers die Lehre von den beiden Reichen nennt. Das heißt, dass nach meiner Auffassung Kirche und Staat verschiedenen Ordnungen des Daseins angehören. Das Übergreifen der einen in die andere ist zwar unvermeidlich, aber weder sehe ich in der Kirche den „Wächter“ des Staates noch im Staat denjenigen, der die Kirche seinen zivilreligiösen Zwecken dienstbar machen darf. Ich habe nie behauptet, dass die Nation ein absoluter Wert ist. Allerdings betrachte ich sie unter den gegebenen Umständen als Basis der politischen Ordnung und ihre Erhaltung mithin als „Mandat“ (Dietrich Bonhoeffer) Gottes.

Ich bin also kein „Völkischer“, gehe aber selbstverständlich von der Existenz der Völker aus. Das deutsche Volk ist ebenso eine Realität wie das Volk Israel. Nur handelt es sich um diesseitige Realitäten. Anders das Evangelium, das eine universale und göttliche Botschaft enthält und zur Mission aller Völker verpflichtet. Zwar eignet sich jedes Volk die christliche Lehre seinem Wesen gemäß an, aber das entscheidende Kriterium ist die Lehre, nicht das Volk.

Ich bin kein Antisemit. Wer so wie Claussen mit dem Begriff umgeht – er meint, es sei für die Feststellung von Antisemitismus „nicht erheblich“, ob man „jüdische Menschen hasse oder nicht“ –, handelt fahrlässig. Faktisch verschafft er sich ein Totschlagargument, das er willkürlich gegen jeden Missliebigen gebrauchen kann, ohne seine Anschuldigungen begründen zu müssen. Hier nur so viel: Zu den wichtigsten Anregern meines Denkens gehörte der große deutsch-jüdische Historiker Hans-Joachim Schoeps (dessen Andenken ich ein Buch gewidmet habe). Zu den Wissenschaftlern, deren Wertschätzung ich als besondere Ehre betrachte, zählt Martin van Creveld, Emeritus der Hebräischen Universität Jerusalem. Beider Familien haben durch das NS-Regime unsagbares Leid erfahren.

Böswillig und unzutreffend ist die Behauptung, ich hätte den nationalsozialistischen Massenmord an den Juden bagatellisiert. Claussen nennt mein Buch Der Weg in den Abgrund zwar „notorisch“, aber ich bezweifle, dass er es gelesen hat. Verlässt man sich wie Claussen auf Sekundärliteratur – in dem Fall ein paar ausgesprochen verzerrende Besprechungen – , läuft man natürlich Gefahr, weiterzuschleppen, was als „Afterrede“ schon in Umlauf ist.

Zu erklären ist das geschilderte Vorgehen Claussens im Grunde nur mit dem Wunsch, mich als „Nazi“ erscheinen zu lassen. Dazu bedient er sich auch der Unterstellung, dass meine Ansichten in entscheidenden Punkten denen der nationalsozialistischen „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (DC) entsprächen und Emanuel Hirsch, der bedeutendste DC-Theologe, mein „wichtigster theologischer Gewährsmann“ sei.

Dazu sei festgestellt: Soweit ich mich mit den DC und ihrer Lehre beschäftigt habe, geschah das durchgängig darstellend. Ihre Ideen habe ich mir nirgends zu eigen gemacht. Dasselbe gilt für Hirschs Konzept einer Synthese aus Protestantismus und NS-Ideologie. Davon unberührt bleibt Hirschs geistesgeschichtliche Bedeutung, die auch Claussen nicht zu bestreiten wagt. Wie Claussen an anderer Stelle richtig bemerkt hat, zählen zu meinen „theologischen Orientierungspunkten“ die Theologen Wilhelm Stählin, Karl Bernhard Ritter und Hans Asmussen. Allen drei gemeinsam war, dass sie der Bekennenden Kirche angehörten und mithin entschiedene Gegner der Deutschen Christen wie des Nationalsozialismus waren. Dieser Widerspruch zu seiner These, dass ich eine Art Fortsetzer der DC sei, hätte Claussen auffallen können. Angesichts des Gesagten dürfte auch die Absurdität von Claussens Behauptung erkennbar werden, ich wolle, „alle alt-israelitischen und jüdischen Traditionselemente aus dem Christentum … verbannen und es stattdessen mit heidnisch-germanischen Motiven“ anreichern. Hätte er einen Blick in die ihm so verdächtig erscheinenden Arbeiten zur Symbolik geworfen, wüsste er, dass sie dem Zweck der Analyse und nicht der Propaganda dienen. Das heißt, es geht hier um mein eigentliches Spezialgebiet als Historiker, das man als „Religiöse Zeitgeschichte“ bezeichnen könnte. Zur Methode des Historikers gehört, seine Gegenstände zu erfassen und sachlich zu analysieren.

Chance auf ein Rollback

Damit zur eigentlichen Kernfrage: Was ist die Motivation Claussens, der nach einer Abhandlung über meine „Theologie“ für die Arbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus dann den erwähnten Text in zeitzeichen veröffentlicht und im Tagesspiegel zweitverwertet hat und noch eine weitere ausführliche Version samt Apparat für einen Sammelband ankündigt, der demnächst erscheint? Sachliches Interesse darf man wohl ausschließen. Ist also denkbar, dass er tatsächlich fürchtet, wie an einer Stelle angedeutet, der Protestantismus könne „zu den Verlierern nächster Modernisierungswellen“ zählen, was mir als „Modernisierungsverweigerer“ die Chance auf ein Rollback eröffnete? Oder geht es nur um jene Maxime Claussens, der zufolge „Rechte“ nicht als Gegner, sondern als Feinde zu behandeln sind, deren „Sieg … unter allen Umständen zu verhindern“ ist (vergleiche zz 4/2017)? Oder handelt es sich um Realitätsverlust, der ihn ernsthaft behaupten lässt, dass die „evangelische Kirche … keine Einheitspartei, sondern ein Begegnungsraum“ sei?

Wahrscheinlich spielten alle genannten Faktoren eine Rolle. Aber am problematischsten ist der zuletzt genannte. Denn die evangelische Kirche hat durchaus Züge einer „Einheitspartei“, nie und nimmer ist sie ein „Begegnungsraum“. Kaum irgendwo sonst sind die Meinungskorridore so eng wie hier. Das Goldene Zeitalter der offenen Debatte ist längst vorbei und fast vergessen. Damals, in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten, als man noch erinnerte, was Unfreiheit bedeutete, erlaubte man sich tatsächlich Kontroversen, wenn linke Köpfe (zum Beispiel Helmut Gollwitzer, Iring Fetscher, Klaus von Bismarck) und rechte Köpfe (zum Beispiel Otto Dibelius, Helmut Thielicke, Paul Althaus) ihre Positionen offen und mit aller Schärfe vortrugen. Dann folgte, was Claussen als „langen Weg des deutschen Protestantismus“ bezeichnet, „bis er seinen Platz in der Demokratie gefunden hatte“. Nur ging es dabei nicht, wie er behauptet, um „innere Demokratisierung“, sondern um die strategische Durchsetzung der kirchlichen Linken, die nach und nach alle entscheidenden Positionen unter ihre Kontrolle gebracht hat.

Die Erwartung, dass dieser Siegeszug den Bedeutungsverlust des Christentums aufhalte, dass nach Überwindung der „Volkskirche“ und Ausschaltung der Bibeltreuen die „offene Kirche“ im Schulterschluss mit allen progressiven Kräften und auf der Höhe der Zeit wieder eine Macht des gesellschaftlichen Lebens werden könnte, hat sich nicht erfüllt. Schon um das zu kompensieren, ist man stets einen Schritt weiter gegangen als die weltlichen Alliierten: noch etwas konzessionsbereiter gegenüber dem Ostblock, noch etwas vaterlandsloser, noch etwas verständnisvoller für jede Befreiungsbewegung, egal welche Gräuel sie zu verantworten hatte, noch etwas schuldbewusster gegenüber der Dritten Welt, noch etwas entschlossener für die Umverteilung, noch etwas grüner, bunter, multikultureller.

Dieses Bedürfnis, Avantgarde zu spielen, erklärt viel davon, warum der Protestantismus, lange bevor Politische Korrektheit und Deplatforming und Cancel Culture zu allgemein bekannten Begriffen wurden, die entsprechende Praxis längst umgesetzt hatte.

Man denke nur an die Disziplinierung jener Geistlichen, die sich gegen die Ordination von Frauen wandten oder an der biblischen Ablehnung der Homosexualität festhielten, an das Hintertreiben von Gemeindeveranstaltungen, die im Ruch standen, „antikommunistisch“ zu sein, an den Rufmord, der fallweise den frommen Störenfried traf und den Ausschluss Missliebiger von den Kirchentagen. Das diesbezügliche Vorgehen gegen die AfD ist nur ein aktuelles Beispiel für solche Zensurmaßnahmen. Die trafen in der Vergangenheit etwa die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, die für politische Häftlinge in der Sowjetunion eintrat, die Befürworter der Judenmission oder die Lebensschützer.

Klima der Unduldsamkeit

Aber es geht auch um den Geist der Intoleranz, der die Veranstaltungen beherrschte. Mit großer Bitterkeit denke ich bis heute an den Hamburger Kirchentag von 1981, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung um die NATO-Nachrüstung stand. Es herrschte damals ein Klima der Unduldsamkeit und sogar des Hasses gegenüber allen Befürwortern militärischer Verteidigung. Wem nicht gleich pazifistische Prügel angedroht wurden, der durfte für den Fall öffentlicher Stellungnahme erfahren, was es heißt, von einer ganzen Halle niedergebrüllt zu werden.

Fazit: Wenn die evangelische Kirche tatsächlich ein „Begegnungsraum“ wäre, hätte Johann Hinrich Claussen längst irgendwo Karlheinz Weißmann begegnen können. Eigentlich eine schöne Idee: höfliche Begrüßung, angeregtes Gespräch, interessiertes Nachhaken, wie der Andere dieses oder jenes gemeint habe, kritische, auch pointierte Auseinandersetzung, dann ein paar Beiträge aus dem Publikum, zum Schluss Dank des Moderators, Beifall, Händeschütteln und das Versprechen, die Kontroverse bei Gelegenheit fortzusetzen. Nichts davon ist geschehen. Und man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass derlei auch in Zukunft nicht geschehen wird.

Vielleicht fragt sich der eine oder andere, woher meine Sicherheit in diesem Punkt rührt. Dazu eine kleine Anekdote. Mitte der 1990er-Jahre wurde ich von einigen Evangelischen Akademien eingeladen. Zuerst nach Tutzing in den Politischen Club, dann nach Loccum, dann nach Neudietendorf/Thüringen. Dort hatte der ganze Ablauf etwas Freundlich-Amateurhaftes. So erfuhr ich erst bei meiner Ankunft, welche Zusammensetzung des Podiums man geplant hatte. Nachdem die übrigen Teilnehmer aufgezählt waren, sagte ich zu der jungen Dame, die die Veranstaltung leiten sollte, dass ich irritiert darüber sei, als einziger Rechter acht Linken gegenüberzustehen. Darauf sie: „Aber das ist doch normal, in der Kirche sind wir alle links.“ – Kein Hinweis auf Ironie. 

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