Seit 2015 ist Syrien ein Schicksalsland deutscher Politik geworden. Mit der Migrationskrise rückte auch die Frage der Hilfe vor Ort in den Vordergrund. Zehn Jahre nach Ausbruch des Bürgerkrieges steht das Land vor einer humanitären Notlage: die Mehrheit der Bevölkerung lebt im Elend, die Inflation lässt die Preise für einfachste Bedarfsgüter explodieren, die Vereinten Nationen warnen vor einer Hungersnot. Hilfsorganisationen wendeten sich im Januar in einem Offenen Brief an den neuen US-Präsidenten Joe Biden, um ein Ende der Syriensanktionen einzufordern. Christliche Hilfswerke wie „Kirche in Not“ (ACN) klagen über die Sanktionen, die humanitäre Hilfe angeblich nicht behindern soll; in Wirklichkeit sind Überweisungen nach Syrien de facto nicht mehr möglich und Regularien erschweren effektive Hilfe vor Ort. Die COVID-Krise tut ihr Übriges.
Die deutsche Politik hat den Themenkomplex bisher gemieden
Die deutsche Politik hat den Themenkomplex bisher gemieden. Auf eine Anfrage der Tagespost, ob und wie die Arbeit christlich-humanitärer Organisationen in Syrien verbessert werden könnte, wollte sich der religionspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Hermann Gröhe, nicht äußern. Grüne wie FDP reagierten auf die Anfrage erst gar nicht. Gröhes Parteikollege Markus Grübel, der Bundesbeauftragte für weltweite Religionsfreiheit, verwies angesichts der drohenden Hungersnot in Syrien auf die bisherige Politik von Bundesregierung und Europäischer Union. Grübel ist zugleich Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und Stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Darüber hinaus ist er Obmann im „Unterausschuss Zivile Krisenprävention“.
„Die außenpolitische Linie der Bundesregierung sieht keine Kooperation mit dem syrischen Regime vor, da Deutschland kein Zeichen der Normalisierung an Assad senden will“, blieb Grübel hart. „Projekte in Gebieten, die vom syrischen Regime kontrolliert sind, werden deswegen nicht im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit unterstützt.“ Das Assad-Regime habe „Völkerrecht gebrochen und massive Menschenrechtsverletzungen begangen, darunter Folter, Giftgasangriffe und willkürliche Verhaftungen“, betonte der Bundestagsabgeordnete. Menschenrechtsverletzungen fänden weiter statt, Russland habe gezielt zivile Infrastruktur bombardiert. „Sanktionen, die sich klar gegen die verbrecherische Führung und das Assad-Regime richten, müssen deswegen erhalten bleiben“, so Grübel.
Es gebe zwar Sanktionen, die „die Menschen in Syrien deutlich härter treffen als die verbrecherische Führung“. Diese sorgten dafür, dass der Bevölkerung eine „Perspektive“ fehle. Aufgehoben werden könnten diese Sanktionen aber nur, wenn dies an klare Bedingungen geknüpft werde. „Willkürlich Gefangene müssen freigelassen werden, Rückkehrern muss Sicherheit gewährt werden, die Enteignungen der Immobilien von Flüchtlingen müssen rückgängig gemacht werden.“ Die Haupttäter müssten überdies bestraft werden. Grübel hob hervor, dass in Syrien eine „glaubwürdige Veränderung sichtbar im Gange sein“ müsse. Vorher werde Deutschland nicht in den Wiederaufbau Syriens investieren. „Damit ist Deutschland auf Linie der EU.“ Der Bundesbeauftragte sieht demnach trotz der sich ändernden Bedingungen und der Behinderung humanitärer Arbeit keinen Grund zum Strategiewechsel.
CSI kritisiert Beauftragten für Religionsfreiheit
Pfarrer Peter Fuchs von Christian Solidarity International (CSI) wirft Grübel vor, er ignoriere „die Erklärung der UN-Sonderberichterstatterin Alena Douhan, die in aller gebotenen Klarheit festgestellt hat, dass die US-Wirtschaftssanktionen die Menschenrechte der syrischen Zivilbevölkerung verletzen“. Viele der verhängten Wirtschaftssanktionen hätten die Wirkung einer kollektiven Bestrafung der syrischen Zivilbevölkerung. Sie nähmen ihr „keineswegs nur eine imaginäre ,Perspektive‘, sie sind tödlich!“ Dies könnten die Menschen in Syrien, Kirchenleute und im Land verbliebene Ärzte, Herrn Grübel bestätigen, wenn sie endlich gehört würden.
Die Vorstellung Grübels, die Aufhebung der Sanktionen an Bedingungen knüpfen zu wollen, mache die syrische Zivilbevölkerung „zur Geisel einer Politik, die ihre Regime-Change-Phantasien auf dem Rücken der ausgelaugten, kranken, arbeitslosen und verhungernden Menschen auslebt“, so Fuchs weiter. Jeder würde wissen, dass Damaskus die Bedingungen nicht erfüllen werde. Fuchs verwies auf den britischen Botschafter Peter Ford. Dieser bezeichnete die menschenverachtende Sanktionspolitik des Westens gegenüber Syrien als „moralisch absolut verkommen“ und „total erschütternd“.
AfD lehnt Sanktionen gegen einen Staat grundsätzlich ab
Der katholische Sprecher der Christen in der AfD, Ulrich Oehme, betonte, dass seine Fraktion Sanktionen gegen einen Staat grundsätzlich ablehnte. „Die Sanktionen dürfen sich ausschließlich gegen die Verantwortlichen richten und nicht ganze Völker in Sippenhaft nehmen“, so Oehme. „Aus christlicher Sicht muss davon abgesehen werden, Sanktionen gegen die Zivilbevölkerung auszusprechen, um dadurch politischen Druck auf Verantwortliche zu erzeugen. Dadurch wird nur Not und Elend in der Zivilbevölkerung erzeugt.“ Oehme kündigte an, in einer schriftlichen Frage Entwicklungsminister Gerd Müller auf die Problematik des Zahlungsverkehrs anzusprechen. Er verwies zudem auf seine eigene Erfahrung im Nahen Osten und bestätigte die Ansicht, dass die dortige Bevölkerung den Eindruck habe, der Westen habe sie vergessen. „Eine weitere Möglichkeit der Entschärfung der Situation könnte in der Anwendung des ,Global Magnitsky Acts‘ bestehen“, führte er aus. „Er richtet sich gegen unerwünschte Organisationen und Individuen eines Landes.“ Oehme bezeichnete ein solches Vorgehen als „wirkliche Alternative“ zur „Sippenhaftung“.
Auch Christine Buchholz, die religionspolitische Sprecherin der Linksfraktion, äußerte sich zu der Causa: „Alle Hilfsorganisationen müssen helfen dürfen, das Leid der syrischen Bevölkerung zu lindern. Sanktionen treffen immer die Zivilbevölkerung am heftigsten und nicht das Regime. Deshalb ist Die Linke gegen alle Sanktionen und fordert ihre Aufhebung.“
Quelle: Die Tagespost, 08.02.2021